Konferenzbericht über das memoQfest 2023 – Survival of the Fittest

BeomedBeomedBlog

Konferenzbericht über das memoQfest 2023 - memoQfest-Logo

Die Sprachbranchen-Events memoQfest und BPConf sind völlig unterschiedlich und ergänzen sich deshalb perfekt. Während sich bei der Konferenz BPConf vor allem freiberufliche Übersetzerinnen und Übersetzer treffen und über Best Practices austauschen, sind diese auf dem memoQfest deutlich in der Minderzahl. Umso wichtiger ist es, dass neben den Stimmen der Übersetzungsagenturen, Firmen-Sprachendienste und MT-Propheten auch die des Personenkreises gehört wird, der letztlich die Grundlage für den Erfolg der LSPs und Tool-Provider sind. Beim bisher größten memoQfest (> 260 Anmeldungen) war man am Puls der Sprachenbranche: Alle Arten von „Stakeholdern“ waren vor Ort; man konnte sein Wissen in Master Classes und Vorträgen erweitern und traf Gleichgesinnte zum Netzwerken auf hohem Niveau.

MemoQ Progress Report – was läuft so bei memoQ?

„Wenn du von der ersten Version deines Produkts nicht enttäuscht bist, hast du es zu spät gelauncht.“

Reid Hoffmann, Gründer von LinkedIn

Aus der Anwender-Perspektive sieht das aber anders aus – wir wollen uns nicht mit den Bugs unzureichend getesteter Produkte herumärgern. Doch der Konkurrenzdruck auf dem Markt der TMS- und CAT-Tools für die Sprachenbranche ist offenbar extrem hoch; fast alle großen Anbieter wurden in den letzten Jahren geschluckt oder haben fusioniert. Außerdem fordern die Nutzer:innen laufend neue Funktionen ein, die abgewogen und umgesetzt werden sollen.

So zumindest beschrieb @Peter Reynolds das Marktumfeld, in dem memoQ bestehen muss.

Und so erklärte er auch, warum die neu programmierte Version der Translation Memories (TM+) verfrüht eingeführt wurde und dringend Nachbesserungen braucht.

Ein weiterer Grund: Oft bekommen die Entwickler typische Anwendungsszenarien („Use Cases“) erst mit, wenn sich nach der Einführung einer neuen Funktion aufgeregte Anwender:innen bitter beklagen – entweder in den sozialen Medien oder auf dem memoQ Users Idea Portal. So heißt die Plattform, auf der Anwenderinnen und Anwender ihre Wünsche oder „Pain Points“ vorstellen und zur Abstimmung veröffentlichen.

Tipp: Ich empfehle allen, die memoQ nutzen, sich bei diesem Portal anzumelden und aktiv daran mitzuwirken, unsere Übersetzungsumgebung zu optimieren!

Von „technischer Schuld“ und In-Country-Review

Es hatte lange gedauert, bis das memoQ-Programmierteam sein mühsames Großprojekt abgearbeitet hatte – den veralteten Programmiercode zu aktualisieren und zukunftssicher zu machen. Diese „technische Schuld“ ist jetzt endlich beglichen, und nun wird daran geschraubt, die Browser-Version von memoQ – memoQ Web – anwenderfreundlicher zu gestalten.

Als Blaupause dafür dient eine brandneue Überprüfungsfunktion, die meine Kunden im LifeScience-Bereich lieben werden: die memoQ „In-Country-Review“ (ICR). Was das ist? Bei der In-Country-Review wird der Text nach der Übersetzung und Revision nochmals auf sprachliche Richtigkeit geprüft und sichergestellt, dass bei der Übersetzung die Kultur und die Terminologie-Präferenzen des Zielpublikums im jeweiligen Land berücksichtigt wurden. Die ICR ist die Freigabe des übersetzten Texts durch einen Experten bzw. eine Expertin auf dem Fachgebiet (SME = Subject Matter Expert) oder von Kundenseite.

Peter Reynolds stellt die neue memoQ-Funktion In-Country-Review vor.
Peter Reynolds präsentiert die neue Funktion „In-Country-Review“.

Wieso diese spezielle ICR-Funktion? Die für die ICR vorgesehenen Fachkräfte haben nur begrenzte Zeit zur Verfügung und meist keinerlei Erfahrung mit CAT-Tools.

Welche Anforderungen an eine Funktion für die In-Country-Review ergeben sich daraus?

  • Die ICR-Funktion soll möglichst unkompliziert sein.
  • Die  Bedienoberfläche soll frei von allen ablenkenden und für die Freigabe irrelevanten Funktionen sein
  • Die Referenzmaterialien sollen einfach angezeigt werden können.

Diese In-Country-Review ist leider nur für die memoQ Cloud/Server-Lösung verfügbar und wird im Lauf der nächsten Versionen verfeinert. Bei der Vorstellung des aktuellen Stands der ICR-Funktion notierte das memoQ-Design-Team aufmerksam die Einwände und Wünsche der anwesenden „Power User“. Das alte memoQ-Motto „We hear you“ ist es, was memoQ von anderen Tool-Anbietern unterscheidet – ein offenes Ohr für Kundenanliegen.

Mir war in diesem Fall wichtig, auch eine Vorschau-Funktion einzufordern. Da ich schon jetzt meine Kunden mit der memoQ Cloud und memoQ Web in den Freigabezyklus einbinde, weiß ich, dass die Kunden diese Zieltext-Vorschau nutzen und sogar gerne zusätzlich den AUSGANGStext angezeigt bekämen. Was das bringt (= was ist der Use Case)? Die Freigebenden sparen Zeit und haben ein besseres Nutzungserlebnis: Sie müssen dann nicht mehr umständlich in ihrer Dateistruktur oder im E-Mail-Wust nach dem Ausgangstext suchen und die Datei in einem separaten Programm öffnen. Am übersichtlichsten wäre die Freigabefunktion, wenn sie das freizugebende Text-Segment sowohl im Ausgangstext als auch im Zieltext parallel hervorheben würde.

memoQ PDF-Vorschau und memoQ-Finetuning

Kleiner Exkurs zur PDF-Vorschau in der TranslatorPro-Version: Das jetzige PDF-Preview-Tool kann man ja nur in der lokalen memoQ-Version nutzen. Diese Voransicht-Funktion für PDF-Ausgangstexte im Original-Layout ist so praktisch, dass ich auch Texte im Word-Format in PDF umwandle, um diese Funktion nutzen zu können. Es würde viel Zeit sparen, wenn memoQ das automatisch machen würde. Das wäre dann wohl ein „Feature Request“ fürs memoQ-Ideenportal.

Bei den memoQ-Masterclasses ging es um Terminologie, Tipps und Tricks für Korpora, das Feinjustieren von Projektvorlagen und Best Practices für Projektmanager
Die memoQ-Masterclasses im Überblick. Hier lernt man die Feinheiten.

Aber vielleicht funktioniert es ja jetzt schon, wenn ein schlauer Kopf bei memoQ dafür ein „Skript“ schreibt, also eine kurze Befehlsabfolge, die vor dem Übersetzen automatisch ausgeführt wird? @Jure Dernovsek, Solution Engineeer Coordinator bei memoQ, hatte bei seiner Präsentation zum Finetuning der Projektvorlagen viele Beispiele für solche smarten Feineinstellungen.

ChatGPT und MT – Survival of the Fittest

An AI-Themen kommt die Sprachenbranche nicht mehr vorbei. Bei memoQ spricht man zwar lieber von „Machine Learning“ als von künstlicher Intelligenz, aber Tatsache ist, dass laufend daran gefeilt wird, wie man mehr und bessere MT-Engines in memoQ einbinden und durch Qualitätsprognosen den Anteil an Humanübersetzungen verringern kann. Für memoQ ist geplant, ChatGPT in irgendeiner Weise zu integrieren – eventuell mit der WebSearch-Funktion. (Nebenbei: Meine libanesisch-irakische Kollegin @Nofar Moshe empfahl wärmstens das PromptEngineering-BootCamp für Übersetzer:innen im Trainingsportal von Proz.com. Man kann sich nie früh genug über neue Technologien informieren!).

MT-Profi @Jay Marciano on Lengoo.com sieht die Zukunft von klassisch arbeitenden Übersetzer:innen angesichts der rasanten Entwicklung ohnehin düster und empfiehlt, sich eher in Richtung „Pre- oder Post-Editor“„Data Curator“, „Prompt Engineer“ und dergleichen „weiterzuentwickeln“. Allerdings stellte er in seinem Vortrag „Generative AI and the creation of cross-lingual content: ChatGPT, Large Language Models, and the future of the localization industry“ die Übersetzung an sich als rein mathematisches Problem dar.

Jay Marciano referiert über die Fähigkeiten, die sich Menschen mit neuen Sprachenberufen brauchen werden.
Jay Marciano referierte über die Fähigkeiten, die Menschen mit neuen Sprachenberufen seiner Meinung nach brauchen werden.

Das greift, finde ich, viel zu kurz: Was ist mit kulturellen Nuancen, Tonalität, Marken-Identität und regulatorischen Vorgaben? Was macht die AI mit den schon jetzt oft schlecht geschriebenen und terminologisch heterogenen Ausgangstexten? Die künftig durch AI voraussichtlich noch unzuverlässiger werden („Crapification of source texts“)?

Engagierte Übersetzer und Übersetzerinnen produzieren keine kühl errechneten Texte, sondern helfen den Kunden engagiert dabei, den Wert ihrer Produkte und Dienstleistungen zielgruppengerecht zu kommunizieren. Und sie weisen auf imageschädigende und gefährliche Fehler im Ausgangstext hin.

Großes Kopfnicken gab es im Publikum bei der dringenden Empfehlung, dass jedes Unternehmen einen AI-Ethikkodex erstellen sollte.

Gefreut hat mich beim Vortrag „Measuring translation quality“ von @Gábor Bessenyei die Bestätigung meiner „Theorie“ zur allmählichen Qualitätsverschlechterung der maschinellen Übersetzung: Der Anteil der menschlich übersetzten Texte im Internet ist vermutlich schon jetzt geringer als der von maschinell übersetzten Inhalten. MT und AI speisen sich (übrigens unter Missachtung sämtlicher Copyright-Gesetze) aus dem Material, welches wir Menschen in der Vergangenheit generiert haben. Wenn aber der Anteil der maschinell erstellten – und oft NICHT posteditierten – Texte „da draußen“ wächst und wächst, läuft die AI zwangsläufig im „Inzest“-Modus und wird aller Wahrscheinlichkeit nach an ihrer eigenen zweifelhaften Qualität ersticken.

Genau das hat nun der Gründer des NMT-Anbieters Globalese auf dem memoQfest sinngemäß bestätigt:

„AI-generated content will finally be sucked-up back in the system and will probably reduce the quality of the system“.

Gábor Bessenyei, CEO at MorphoLogic Localisation & Globalese
Gábor Bessenyei ist besorgt. Es gibt immer mehr durch künstliche Intelligenz erstellte Inhalte im Web. Diese verschlechtern die Qualität der NMT/MT-Modelle. 

(Gábor Bessenyei on the problem of pollution of the web and TMs with low-quality MT material)
Gábor Bessenyei erwartet einen Abwärtstrend bei der Qualität von maschinellen Übersetzungen.

Weit positiver waren die Perspektiven für Übersetzer:innen, die @Richard Brooks vom Beratungsunternehmen Slator im Vortrag „Managing Customers“ aufzeigte. Damit die Übersetzung nicht zum gering geschätzten Billig-Allerweltsprodukt („commodity“) verkommt, muss unser Berufsstand aber dringend lernen, seine Mehr-Wert-Sprachdienstleistungen mit einem guten Marketing-Mix zu verkaufen. Hier müssen wir uns an der eigenen Nase fassen, und auch die Berufsverbände wie der BDÜ sollten ihre Mitglieder hier intensiver schulen.

Richard Brooks gibt Tipps gegen die „Commoditisierung“ von Übersetzungsdienstleistungen.

MemoQ Translator Pro neu als Abo-Lösung

Um die Hürde für den Einstieg bei memoQ möglichst niedrig zu machen, wird es memoQ Translator Pro bald als Abo-Version geben. Nähere Details werden sicher bald bei memoQ.com veröffentlicht.

LiveDocs rock! Was ist ein memoQ LiveDocs Korpus und was bringt er?

Unter „LiveDocs“ und „Korpus“ können sich viele Kolleg:innen leider noch nichts vorstellen – und auch viele Projektmanager bei Übersetzungsagenturen lassen diese memoQ-Wissensmanagement-Funktion ungenutzt.

Dabei ist diese CAT-Tool-Komponente Gold wert und ein echtes Alleinstellungsmerkmal von memoQ!

In den Korpus kann man nicht nur zweisprachige Texte packen, um sie auszuwerten und in ein Translation Memory umzuwandeln, sondern auch einsprachige Dokumente – und diese dann für die Konkordanzsuche oder Terminologierecherche nutzen und vieles mehr.

Was viele Übersetzer:innen und PMs nicht wissen: Man kann auch Videos und Web-Adressen in den Korpus einfügen und so für sich selbst oder andere am Übersetzungsprojekt Beteiligte einen leicht verfügbaren Wissensschatz zusammenstellen – ohne zeitraubendes Hoch- und Herunterladen von Material auf irgendeinen Cloud-Drive durch jede beteiligte Person im Übersetzungsprozess, ohne mühsames Öffnen einzelner Dateien in anderen Programmen. Und man kann einen Text entweder in einem mit Konkordanz-Funktion durchsuchbaren Format oder aber „so wie er ist“ („binär“) hochladen, also etwa als übersichtlich formatiertes PDF-Dokument. Die LiveDocs-Funktion ist zwar manchmal etwas langsam, aber für mich trotzdem unverzichtbar!>

Kontaktieren Sie mich, wenn Sie mehr über LiveDocs wissen wollen!

Neben dem Vortrag zum Thema LiveDocs gab es viele weitere kompetenzerweiternde Fallstudien und Präsentationen – von selbst definierten Keyboard-Shortcuts bis hin zum anspruchsvollen Anpassen der Projektvorlagen, Skripts und RegEx. Meine Strategie nach dem 20:80-Prinzip: Ich muss nicht alles selbst können, aber wenn ich weiß, was möglich ist und die entsprechenden schlauen Köpfe in unserer Branche kenne, reicht das aus! Dazu tragen die vorgestellten Anwendungsbeispiele bei, in denen Kunden zeigen, wie sie memoQ „finetunen“, um auch die komplexesten Übersetzungsprojekte effizient bearbeiten zu können.

Networking beim memoQfest 2023

Geradezu legendär wie immer. Die Orte, die @Sándor Papp mit @Réka Nagy und dem Team auswählt, sind immer wieder atemberaubend und ein wunderbarer Rahmen für zukunftsträchtige Kontakte. Beim memoQfest treffen sich eben nicht nur Übersetzer:innen oder nur Agenturen, sondern es tauschen sich memoQ-Teammitglieder, Übersetzer:innen, Firmen-Sprachendienste, Agenturen und Tool-Anbieter (Plunet, XTRF etc.) miteinander aus.

Besonders erfrischend war die sympathische Truppe von Übersetzerinnen und Übersetzern aus Transsilvanien, die ihre eigene kleine, aber feine Übersetzungskonferenz TranslateCluj veranstalten, die freudige Begegnung mit langjährigen Kollegen und Kolleginnen, mit „alten Hasen“ genauso wie mit „Erstlingen“. In den Pausen organisierten sich die Teilnehmenden selbst per App unkomplizierte Treffen – etwa von Sprachprofis aus dem LifeScience-Bereich, „Women in Localization“ usw.

Die sympathischen Übersetzerinnen und Übersetzern aus Transsilvanien, die ihre eigene kleine, aber feine Übersetzungskonferenz TranslateCluj veranstalten,
Kolleg:innen aus Transsilvanien (von links: Ciprian Iovu, Thomas Tolnai, Elvira Daraban und Andreea Floarea).

Das i-Tüpfelchen beim diesjährigen memoQfest: Ich konnte gleich mehrere engagierte memoQ-Teammitglieder wie @Anna Pawlik, @Ulrich Fricke, @Anna-Mohácsi-Gorove und andere treffen und freue mich, dass das memoQ-Team in den Startlöchern steht, um uns Freiberufler:innen, die Ausbildungsinstitute und vor allem BDÜ-Mitglieder künftig besser zu unterstützen. Klingt vielversprechend, oder?